Zur soziologischen Psychologie der Löcher
(Kurt Tucholsky, "Zwischen Gestern und Morgen")

Habt Ihr auch ein nettes Gedicht oder einen Aphorismus, ein Sprichwort, eine Weisheit oder nur einen netten Spruch, den ihr hier nicht wiederfindet? Dann mailt Ihn mir bitte: merkenswertes at natokh.de. Ich werde ihn oder es dann bei nächster Gelegenheit hier "veröffentlichen". Wenn Ihr es wünscht mit Nennung Eures Namens.

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Ein Loch ist da, wo etwas nicht ist.
Das Loch ist ein ewiger Kompagnon des Nicht-Lochs: Loch allein kommt nicht vor, so leid es mir tut. Wäre überall etwas,
dann gäbe es kein Loch, aber auch keine Philosophie und erst recht keine Religion, als welche aus dem Loch kommt. Die
Maus könnte nicht leben ohne es, der Mensch auch nicht: es ist beider letzte Rettung, wenn sie von der Materie bedrängt
werden. Loch ist immer gut.

Wenn der Mensch "Loch" hört, bekommt er Assoziationen: manche denken an Zündloch, manche an Knopfloch und manche an
Goebbels.

Das Loch ist der Grundpfeiler dieser Gesellschaftsordnung, und so ist sie auch. Die Arbeiter wohnen in einem finsteren,
stecken immer eins zurück, und wenn sie aufmucken, zeigt man ihnen, wo der Zimmermann es gelassen hat, sie werden
hineingesteckt und zum Schluß überblicken sie die Reihe dieser Löcher und pfeifen auf dem letzten. In der Ackerstraße
ist Geburt Fluch; warum sind diese Kinder auch gerade aus diesem gekommen ? Ein paar Löcher weiter, und das
Assessorexamen wäre ihnen sicher gewesen.

Wenn der Mensch ein Loch sieht, hat er das Bestreben es auszufüllen, dabei fällt er meist hinein. Man tut also gut, um
die Löcher einen großen Bogen zu machen, wobei man sich nicht wundern darf, wenn man in andere fällt. Man falle also
lieber in das erste. Loch ist Schicksal.

Das Merkwürdige an einem Loch ist der Rand. Er gehört noch zum Etwas, sieht aber beständig in das Nichts, eine Grenzwache
der Materie. Das Nichts hat keine Grenzwache: während den Molekülen am Rande eines Loches schwindlig wird, weil sie in
das Loch sehen, wird den Molekülen des Lochs ... festlig ? Dafür gibt es kein Wort. Denn unsere Sprache ist von den
Etwas-Leuten gemacht; die Loch-Leute sprechen ihre eigene.

Das Loch ist statisch; Löcher auf Reisen gibt es nicht. Fast nicht.

Löcher, die sich vermählen, werden eines, einer der sonderbarsten Vorgänge, unter denen, die sich nicht denken lassen.
Trenne die Scheidewand zwischen zwei Löchern: gehört dann der rechte Rand zum linken Loch - ? oder der linke zum
rechten ? oder jeder zu sich ? oder beide zu beiden ? Meine Sorgen möchte ich haben.

Wenn ein Loch zugestopft wird: wo bleibt es dann ? Drückt es sich seitwärts in die Materie ? oder läuft es zu einem
anderen Loch, um ihm sein Leid zu klagen ? - Wo bleibt das zugestopfte Loch: niemand weiß das: unser Wissen hat hier
eines.

Wo ein Ding ist, kann kein anderes sein. Wo schon ein Loch ist: kann da noch ein anderes sein ? Und warum gibt es keine
halben Löcher - ?

Manche Gegenstände werden durch ein einziges Löchlein entwertet; weil an einer Stelle von ihnen etwas nicht ist, gilt nun
das ganze Übrige nichts mehr. Beispiele: ein Fahrschein, eine Jungfrau und ein Luftballon.

Das Ding an sich muß noch gesucht werden; das Loch ist schon an sich. Wer mit einem Bein im Loch stäke und mit dem
anderen bei uns: der allein wäre wahrhaft weise. Doch soll dies noch keinem gelungen sein. Größenwahnsinnige behaupten,
das Loch sei etwas negatives. Das ist nicht richtig: der Mensch ist ein Nicht-Loch, und das Loch ist das Primäre. Lochen
Sie nicht; das Loch ist die einzige Vorahnung des Paradieses, die es hienieden gibt. Wenn Sie tot sind, werden Sie erst
merken, was Leben ist. Verzeihen Sie diesen Abschnitt; ich hatte nur zwischen dem vorigen und dem nächsten ein Loch
ausfüllen wollen.

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